Jürgen Terhag

Kurztexte

Neue Inhalte, neue Methoden
Eine Standortbestimmung zeitgemäßen Musikunterrichts

In dieser musikpädagogischen Standortbestimmung werden einige ausgewählte Schlaglichter auf die aktuelle Diskussion um das Fach Musik an der allgemein bildenden Schule geworfen. Dadurch sollen die didaktischen und methodischen Entscheidungen eines zeitgemäßen Musikunterrichts so dargestellt werden, dass sie eine hilfreiche Anregung zum Überdenken der eigenen Unterrichtspraxis für diejenigen darstellen, die an den unterschiedlichen Schulformen tagtäglich das Fach Musik unterrichten.

Alltägliche Freuden und Probleme

Selbstverständlich sieht der alltägliche Musikunterricht je nach Schulform, schulischem Umfeld, persönlichen Vorlieben oder Abneigungen anders aus, aber einige der im Folgenden skizzierten fiktiven Erfahrungen haben wohl alle schon einmal gemacht, die heute im Fach Musik unterrichten, wobei die Quintessenz aus der ersten und der letzten Erfahrung die immer wieder beschriebene Diskrepanz zwischen Ausbildung und Beruf veranschaulichen sollen.

  • In meinen ersten Wochen an der Schule ereilte mich rasch die Erkenntnis, dass ich fast alles, was ich in der Ausbildung gelernt hatte, erst einmal getrost vergessen konnte.
  • Kaum zu glauben: Die Jungs (!) aus der sechsten Klasse haben heute vorgeschlagen, im Musikunterricht einmal zu tanzen!
  • In der Schulkonferenz muss ich mir ziemlich blöde Bemerkungen anhören, wenn ich Geld für die Erneuerung der maroden Musikraum-Ausrüstung fordere. Was denn ein CD-Brenner mit Musik zu tun habe, wurde ich neulich gefragt.
  • Obwohl ich kürzlich ganz begeistert von meiner nach allen Regeln der Kunst vorbereiteten Unterrichtseinheit über einen brandaktuellen Hit war, kam diese in der 8c überhaupt nicht an, obwohl die meisten Schüler/innen dieser Klasse den Titel bekundetermaßen heiß und innig lieben. Noch am Tag zuvor war die Parallelklasse vom gleichen Thema begeistert.
  • Durch die Anschaffung der beiden Computer-Arbeitsplätze interessieren sich plötzlich ganz andere Schüler für den Musikunterricht; ich frage mich manchmal, ob die an der Musik oder am Computer interessiert sind.
  • Als letztens die beiden eher unauffälligen Schüler aus der Zehn eine CD der "Böhsen Onkelz" mit in den Unterricht brachten, war ich ziemlich verunsichert: Ist das Unterrichtsthema "Rechte Rockmusik" nötig oder biete ich dieser Musik damit erst eine Darstellungsplattform?
  • Die Fortbildung zum Klassenmusizieren hat sich wirklich gelohnt. Ich hätte niemals gedacht, dass es möglich ist, in meiner chaotischen Sieben mit der ganzen Klasse zu musizieren!
  • Ich singe zwar gerne mit meinen Schülerinnen und Schüler all diese neuen Lieder, die ja meistens auch gut ankommen, finde es aber schade, dass heutige Jugendliche praktisch kein gemeinsames Sing-Repertoire mehr haben.
  • Wenn ich Fragen zu Internet und Computer habe, wende ich mich vertrauensvoll an meine Schülerinnen und Schüler.
  • Komischerweise wollen die Schüler/innen aus der 12 (!) neuerdings mit ironischer Verklärung und erstaunlicher Ausdauer (!!) all die Lieder singen (!!!), die sie früher vehement abgelehnt haben.
  • Ich würde ja auch gerne so perfekte Arbeitsblätter mit Noten, Text und Grafik aus der Tasche ziehen wie meine Kollegin, aber vor dem dreipfündigen Handbuch des Notationsprogramms habe ich gestern erst einmal kapituliert.
  • Immer, wenn die neue Referendarin von ihrem Studium erzählt, habe ich den Eindruck, mit einem Schlag zwanzig Jahre jünger zu werden: In der Ausbildung hat sich anscheinend überhaupt nichts verändert! Andererseits berichtet sie auch von tollen neuen Ansätzen, die sie aber kaum selbst wahrgenommen hat. Meine Güte, wenn ich heute nochmal studieren müsste, würde ich mir ganz andere Studieninhalte auswählen!

Diese Liste ließe sich beliebig fortführen. Sie verweist exemplarisch auf einige der aktuellen Probleme im Musikunterricht, wobei auffällt, dass diese Probleme sich bildungspolitisch vor allem um die Stellung des Fachs im Fächerkanon und inhaltlich meist um die technisch-mediale Dimension des Unterrichtens oder um Populäre Musik ranken. In den Zitaten werden aber nicht nur Probleme deutlich, sondern auch neue Möglichkeiten und Chancen, die sich derzeit im Musikunterricht bieten. Diese wiederum machen sich paradoxerweise häufig an denselben Unterrichtsinhalten fest, die auch für die Probleme verantwortlich sind.

Daseinsberechtigung und Studienreform

Das Bild des Musikunterrichts ist zurzeit deutlicher als je zuvor im Wandel begriffen, was sich leider häufig in einer Daseinsberechtigungs-Krise ausdrückt. Bereits das In-Frage-Stellen des Musikunterrichts stellt m.E. eine Gefahr für die allgemein bildende Schule in ihrer Gesamtheit dar, die Krise des Fachs ist jedoch hausgemacht. Sie beruht u.a. auf dem problematischen Image des Musikunterrichts bei all jenen, die auf Grund selbst "erlittener" Erfahrungen mit Musikunterricht äußerst skeptisch über Sinn und Wirksamkeit dieses Fachs nachdenken. Nach Beate Dethlefs werden die Bedingungen für den Musikunterricht deswegen schlechter, "weil die Verantwortlichen auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen mit Musikunterricht keine Veranlassung sehen, diesen in Zukunft fortzusetzten." (Dethlefs 2000/275). Die negative Einschätzung macht auch vor Verantwortlichen in der Bildungs- und Kulturpolitik nicht halt. Man stelle sich beispielsweise eine Kultusministerin vor, deren Eltern Tango liebten, die durch die Musik der Beatles hören gelernt und erst lange Zeit nach ihrer Schulzeit erfahren hat, dass man mit der Musik Beethovens auch ganz anders umgehen kann, als das damals in ihrem Musikunterricht geschah; wie so viele Menschen in Deutschland liebt die Frau Musik, hat aber fast nur negative Erinnerungen an das Fach mit diesem Etikett. Wen wundert’s dass man ihr nur schwerlich zu begründen vermag, warum der Musikunterricht weiterhin eine Daseinsberechtigung jenseits aller musik-kulturellen Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts haben soll.

Nicht nur aus diesem Grund wird in den Gremien und Verbänden der Musikpädagogik ebenso wie in den zuständigen Ministerien seit geraumer Zeit über grundlegende inhaltliche Reformen des Unterrichts und der Ausbildung im Fach Musik nachgedacht. Auch in den Fachzeitschriften wird nachdrücklich eine Ausbildung gefordert, die sich stärker an der Unterrichtsrealität und den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen orientiert. Die dabei erhobenen Forderungen sind unterschiedlich realitätsnah; so wurden von der Kultusministerkonferenz der Länder bereits im Jahr 1998 viele Ziele als erreicht bezeichnet, die an einigen Musikhochschulen und Universitäten allenfalls in der Planung sind:

"Die an klassischer Musik und traditioneller Instrumentalpraxis ausgerichtete Musiklehrerausbildung ist in den letzten Jahren zugunsten einer stärker berufszielorientierten und adressatenbezogenen Ausbildung verändert worden. So sind neben den instrumentalpraktischen Fähigkeiten Improvisationskompetenz und interaktive Fähigkeiten bereits Gegenstand der Eignungsprüfungen für die Aufnahme des Musikstudiums für das Lehramt. Chor- und Orchesterleitung sowie Umgang mit Jazz-Improvisation und Big-Bands sind obligatorischer Bestandteil der Hochschulausbildung geworden. Im Vergleich dazu sollen instrumentalpraktische Virtuosität und Musiktheorie zurücktreten." (KMK 1998/164)

Zahlreiche Berichte zur Reform der musikpädagogischen Ausbildung fordern eine Professionalisierung derselben, was u.a. durch einen stärkeren Berufsbezug des Studiums gewährleistet werden soll: Die Bedeutung der Bezugswissenschaften innerhalb der Ausbildung sei darüber zu begründen, in welchem Maß diese zur Erkennung und Lösung künftiger beruflicher Probleme beitrügen (vgl. MfWWF NRW 1998). Der Fachausschuss Musikpädagogik des Deutschen Musikrats fordert eine "dringende Revision der nicht mehr hinreichenden Ausbildungskonzepte, deren Grundvorstellungen im wesentlichen einer Musiktradition des 19. Jahrhunderts entstammen" sowie die "stärkere Einbindung neuer bzw. bisher vernachlässigter Ausbildungsinhalte, z.B. des Ensemblemusizierens, der zeitgenössischen und experimentellen Musik, der Musik anderer Kulturkreise, der Improvisation" (Bfa. MP 1998/59). Die Forderungen der musikpädagogischen Verbände weisen in ähnliche Richtung: Bereits 1996 forderte der Bundesvorsitzende des Arbeitskreises für Schulmusik (AfS) eine Neustrukturierung des Schulfachs Musik und wies darauf hin, dass es in der heutigen musikkulturellen Wirklichkeit "keinen universal gültigen Wertmaßstab für Musik" (Schütz 1996/4) mehr geben könne; mittlerweile gelte "nicht mehr nur das ‘klassische’ (schreibende) Komponieren als einzig legitime Art der Musikproduktion" und es könne "von einer Gleich-Wertigkeit der verschiedenen Musikarten auf einer subjektiven Ebene gesprochen werden" (ebd.). Dabei dürfe "die Theorie der Musik nicht vor oder über dem sinnlichen Erfahrungsprozess stehen, da Musik eine nichtbegriffliche Ausdrucksform (sei), die sich an die Sensorien des gesamten Körpers wendet, um mit Körper, Geist und Seele den ganzen Menschen anzusprechen." (Schütz 1996/7). Es gehe im Musikunterricht folglich nicht darum, "Musikstücke als Objekte des Wissens und der Rationalität (gar musikhistorischer Gelehrsamkeit) zu präsentieren, sondern sie als Medien ästhetischer Erfahrungen zur Geltung zu bringen." (ebd.)

Die Betonung der durch Musik unterschiedlichster Art ermöglichten ästhetischen Erfahrung zieht sich durch zahlreiche Veröffentlichungen zur musikpädagogischen Standortbestimmung. So weisen Hans Bäßler, Bundesvorsitzender des Verbandes deutscher Schulmusiker (VDS), Wilfried Gruhn und Werner Jank in ihrer Analyse der Schulmusik als einem "Fach im Umbruch" (Buchtitel) eindringlich auf "die sich verbreiternde Kluft zwischen den außerschulischen Erfahrungen der Jugendlichen und ihren schulisch vermittelten Erfahrungen" (Jank 1996/XI) hin und verdeutlichen, dass die Grenzen des traditionellen Musikunterrichts in der Schule immer deutlicher spürbar werden. Sowohl der schulische Musikunterricht als auch das Schulmusik-Studium, beide "bisher eher der musikalischen Reproduktion, Rezeption und Analyse verpflichtet (...) als der Produktion, der kreativen Gestaltung, dem Experiment und der Improvisation" , sollten vor allem solche musikalischen Tätigkeiten in den Mittelpunkt stellen, die "Erfahrungen mit musikbezogenen sozialen und kommunikativen Prozessen der Vermittlung" ermöglichen (Jank 1996/60).

Die hier exemplarisch ausgewählten Zitate aus einer großen Anzahl ähnlich akzentuierter Veröffentlichungen zusammenfassend, ergeben sich folgende Forderungen und Anregungen für die Aus- und Fortbildung im Fach Musik, die sich tendenziell auf alle musikpädagogischen Studiengänge (Schulmusik, Instrumentalpädagogik, Früherziehung etc.) ausweiten lassen:

  • Eine durchgängig berufsbezogene Orientierung des Studiums (Schütz 1996, Jank 1996)
  • Die inhaltliche Schwerpunktbildung bei der Musik des 20. Jahrhunderts, hier besonders bei der improvisierten Musik (Nimczik 1991, Eckhardt 2000)
  • Der musikpraktische Einbezug der Populären Musik (Jazz, Pop, Rock und ihre historischen Wurzeln einschließlich ihrer stilistisch nahtlosen Übergänge und Zwischenbereiche) in die Instrumental- und Gesangsfächer sowie in die Fächer Musiktheorie/Tonsatz (Terhag 1997/II)
  • Der musikwissenschaftliche Einbezug der gerade aktuellen Jugendkulturen und ihrer historischen Wurzeln (derzeit Rap, HipHop, Drum’n’Bass, Techno etc.) sowie die musikpädagogische Beschäftigung mit den Möglichkeiten und Grenzen der Thematisierung unterschiedlicher Jugendkulturen (Farin 1997, Terhag 1989), einschließlich der politisch rechten Jugendkulturen (Neitzert 1996, Müller 1994)
  • Die theoretische und praktische Beschäftigung mit der Musik fremder Kulturen (Musik-Kulturen aus Lateinamerika, Afrika, türkisch-arabische Musik [nicht zuletzt auch wegen der Kinder und Jugendlichen aus diesen Kulturkreisen in unserem Schulsystem], Gamelan-Musik, indische Musik etc.) (Ott 2000)
  • Eine berufsbezogene Ensembleleitung und Musiktheorie: Anleiten von musikalischen Gruppenprozessen mit und ohne Noten; Arbeiten mit Klangexperimenten und freien Gestaltungsaufgaben; Anleitungsformen für groovende Musik; Arrangier- und Kompositions-Techniken für stilistisch breit angelegte Ensembleformen (Terhag 1996/1998)
  • Einbezug der Neuen Medien in alle Bereiche der Ausbildung: Arbeiten mit Computer und Internet (Notations- und Sequenzing-Programme, Multimedia-Anwendungen, Informationsbeschaffung und -verarbeitung etc.), Erfahrungen mit Studio- und Aufnahmetechnik (Bechtel 2000, Enders 1995, Rösing/Barber-Kersovan 1998)

Das Beispiel Neue Medien

Die Rolle der Musikpädagogik in der musikkulturellen Gegenwart lässt sich am Verhältnis zu den zuletzt erwähnten Neuen Medien exemplarisch verdeutlichen. Rechnet man Musik aus Boxen und Kopfhörern mit zur technisch vermittelten Musik, wird Musik heutzutage fast ausschließlich medial vermittelt erfahren: Wer weiß schon, wie eine Oboe ohne diese technische Vermittlung klingt oder wie sich ein Saxofon ohne Boxen und Digitalhall anhört? Musikaufnahmen werden heute ausschließlich digitalisiert. Gesamplete Klänge sind vom Original oft nicht mehr zu unterscheiden (wobei wir jedoch ein Sample nur im Vergleich mit dem über Boxen oder Kopfhörer wiedergegebenen Klang als "echt" empfinden und nicht im Vergleich mit dem Klang eines im Raum befindlichen Instruments). Nicht nur die Rezeption, sondern auch die Produktion von Musik hat sich durch technische Medien radikal verändert, indem sie zunehmend unabhängig von Fertigkeiten wie Notenlesen und Instrumentenbeherrschung wird.

Muss das das Schulfach Musik auf Grund der hier nur angedeuteten Mediendominanz in allen Bereichen des musikbezogenen Alltags nun konsequenterweise ein Teilbereich der Medienerziehung werden? Oder sollte letztere umgekehrt ein selbstverständlicher Teil zeitgemäßen Musikunterrichts werden? Muss die Musikpädagogik im Sinne von Medienerziehung das Ziel des sinnvollen Umgangs mit den Medien verfolgen oder als Musikerziehung die Erfahrung des direkten und selbst gestaltenden Umgangs mit Musik ins Zentrum allen Bemühens setzen? In der Regel führen solche Fragen weniger weit als der Versuch einer Verbindung von medial vermittelter und selbst gestalteter Musik. Doch die Musikpädagogik hat sich im Verlauf ihrer Geschichte immer schwer getan mit den jeweils "neuen" Medien. Bei allen technischen Neuerungen schwankte die Reaktion zwischen kulturpessimistischer Skepsis und technikverliebter Euphorie, die sich oft gegenseitig bedingten: Da zu allen Zeiten die Technik-Freaks aus Begeisterung – oder um "aktuell" zu sein – viele Neuerungen bereits einsetzten, als diese noch nicht ausgereift waren, hatten neue Medien und Techniken zunächst große Akzeptanzprobleme. Das Musizieren auf den ersten Keyboards war beispielsweise eine Qual für Ohren und Finger, was wiederum die lange Zeit erklärt, bis die mittlerweile längst besser klingenden Instrumente als vollwertiger und ganz spezieller Teil des schulischen Instrumentariums gelten konnten.

Wenn wir jedoch das medienpädagogische Terrain empört, überheblich oder gelangweilt der Industrie überlassen, berauben wir uns selbst unseres gesellschaftlichen Einflusses. Wenn beispielsweise in einem fantasievoll gestalteten und viel genutzten interaktiven Computerspiel die Abbildung einer völlig falsch gestalteten Tastatur erscheint, ist es unverantwortlich, dass sich Musikfachleute bei der Konzeption dieses Spiels offenbar vornehm zurückgehalten haben. Musiklernprogramme sind ein probates Mittel zur Erleichterung sperriger Übevorgänge oder des Notenlernens, das durch die Arbeit mit Sequenzer- und Notationsprogrammen an der allgemein bildenden Schule inzwischen mehr Sinn macht als je zuvor. Auch der Aufbau eines Sinfonieorchesters kann durch ein gutes Multimedia-Programm anschaulicher, differenzierter und lustvoller vermittelt werden als dies bisher im Musikunterricht möglich war. Damit dies jedoch pädagogisch sinnvoll geschieht, ist die fachkundige Einmischung von Musikpädagog/innen dringend erforderlich, nicht zuletzt um die meist auf den Computer bezogene Motivation zu einer intrinsisch auf Musik bezogenen zu erweitern. Hier gibt es längst sehr positive Beispiele: So wurde die Programmierung von Keyboards und Sequenzerprogrammen erst dann musikpädagogisch fruchtbar, als Fachleute aus Musik und Pädagogik in die Produktionsprozesse der Musikindustrie mit einbezogen wurden. Zu wünschen ist der Musikpädagogik ein fantasievolles, unvoreingenommenes und kritisch-kommentierendes Herangehen an die technische Erweiterungen – oder Einengungen – des schöpferischen Umgangs mit Musik durch die Möglichkeiten der Technik. Hier ist auch eine selbstbewusste Kontaktaufnahme zur Nachbardisziplin Medienpädagogik angebracht, in der Musik häufig ziemlich unsensibel oder langweilig zur "Untermalung" oder als "Atmo" eingesetzt wird.

Auch die zunehmende Veränderung der (jugendlichen) Musikrezeption erfordert neue Methoden und Inhalte im Fach Musik, denn ohne eine bildbezogene Videoclip-Analyse ist beispielsweise die Beschreibung und Bewertung eines aktuellen Poptitels längst nicht mehr angemessen. Daher müsste die Clip-Analyse im Musikstudium thematisiert werden, denn trotz der grundsätzlich gattungsübergreifenden Natur von Videoclips hat dieses Thema aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen weniger in Fächern wie Kunst oder Gesellschaftslehre zu suchen als im Musikunterricht, weil sich die jugendliche Rezeption in der Regel "an der Musik und weniger an den Bildern (orientiert). Letztere werden von Teenagern eher als Illustrationen zur Musik wahrgenommen und weniger als narrativ organisierte Szenen einer eigenständigen Filmhandlung." (Neumann-Braun/Schmidt 1999/23). Weitere neue Aufgaben kommen im Zusammenhang mit dem Internet auf den Musikunterricht zu. Vor allem die Strukturierung und Gewichtung von Informationen wird hier wie in allen anderen Fächern eine immer größere Rolle spielen. Die Unterrichtenden sind künftig nicht mehr Quelle aller Informationen, sondern geben vorrangig Hilfen zu deren Bewertung und werden damit auch zum Deich gegen eine stetig anschwellende Informationsflut. Der Philosoph Walter Ch. Zimmerli definiert in diesem Zusammenhang einen neuen Bildungsbegriff. Ausgehend von der bekannten Tatsache, dass der potenzielle "Zugang zu externen Wissensspeichern (noch keinegswegs bedeute), dass wir das, was in ihnen ist, bereits wüssten" (Zimmerli 2000/31), führt er aus: "Über Bildung zu verfügen, hieße daher: so viel zu wissen, dass man sich in den externen Wissensspeichern zurechtfindet (...) Wie früher die Minimalvoraussetzung für Bildung im Lesen- und Schreibenkönnen bestand, wird zukünftig als gebildet nur bezeichnet werden können, wer mindestens eine Minimalkompetenz im Umgang mit den Informationstechnologien entwickelt hat. Aber Bildung bedeutet nicht Internet-Benutzerkompetenz, sondern auch Persönlichkeitsbildung." (ebd.)

Wo aber sind die Grenzen der medienorientierten Arbeit im Musikunterricht? Alle, die einmal in einem dicken Handbuch vergeblich nach dem Befehl ‘Fermate umkehren’ gesucht haben, kennen sie. Wer diesen Befehl nur alle drei Monate sucht, wird hoffentlich auf digitale Ästhetik pfeifen und die Fermate per Filzstift einsetzen. In solchen Fällen sind offene Ohren und Augen für die Möglicheiten und Grenzen technischer Medien gefordert sowie die Bereitschaft, sowohl Medienallergie als auch Trendhopping zu ersetzen durch eine Verknüpfung von musikalisch und technisch motivierten Zugangsweisen zur Musik. Besonders die Verbindung unterschiedlichster Medien zu Multimedia erfordert völlig neue Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die künstlerische und pädagogische Arbeit mit Multimedia verweist geradezu idealtypisch auf den Fächer verbindenden Unterricht: Wer beispielsweise gestaltend und beurteilend mit multimedial gestalteten Produkten umgehen möchte, muss sich neben der Medientechnik auch in Bereichen wie Grafik, Fotografie, Malerei, Film und Video auskennen. Mit diesem angesichts des Medienbündels erforderlichen Fähigkeitenbündel hat man in allen Disziplinen derzeit noch arge Probleme: So ist meist rasch zu sehen bzw. zu hören, ob eine Multimedia-Produktion von Musik-, Grafik- oder Computerfachleuten gestaltet ist. Hier sind völlig neue Ausbildungskonzepte bis hin zu neuen interdisziplinären Studiengängen erforderlich, denn derzeit drängt sich oft der Eindruck auf, die Verfügbarkeit der Mittel stehe in keinem Verhältnis zur Qualität ihrer Anwendung.

Das Beispiel Populäre Musik

Bei der schulischen Berücksichtigung Populärer Musik ist die Musikpädagogik nach rund vierzig Jahren teilweise erbittert geführter Grabenkämpfe und Leserbrief-Scharmützel (vgl. Terhag 1998) mittlerweile von der Frage, ob Pop, Jazz, Rock & Co. Unterrichtsgegenstand sein können, zu der angesichts der Bedeutung dieser Genres für die Musikkultur des vergangenen Jahrhunderts wesentlich sinnvolleren Frage übergegegangen, wie deren schulische Berücksichtigung aussehen könnte. Fragen nach den Wurzeln oral tradierender Musikkulturen (Dauer 1994; Böhle 1996), nach dem Wesen und der Vermittelbarkeit von Improvisation (Hempel 1997; Eckhardt 2000) sowie nach der kulturellen Bedeutung medialer Lebenswelten (Bechtel 2000, Neumann-Braun 1999) werfen forschungs- und unterrichtsrelevante Schlaglichter auf den weitgefassen Begriff "Populäre Musik", unter dem stilistisch völlig Unterschiedliches wie Punk, Kuschelrock, Rechtsrock, Swing, Türkpop, Afropop, Girlgroups, Grunge u.v.m. zusammengefasst werden (Terhag 2000).

Auf Grund der Dominanz oraler Tradierungs- und Vermittlungsformen widersetzt sich vieles von dem, was Populäre Musik ausmacht noch stärker der Verschriftlichung als bei anderen Musikarten. Dies gilt nicht für die afro-amerikanischen Wurzeln dieser Musik beispielsweise im Jazz oder im Blues, sondern auch für Musiziertraditionen in der Amateurbandszene von Rock und Pop. Populäre Musik ist jedoch keineswegs in allen Stilbereichen durch Improvisation gekennzeichnet. Hier ist zu unterscheiden zwischen einem Rockkonzert, bei dem sich die Improvisation auf inszenierte, selten völlig frei gestaltete Soli konzentriert, der meist formelhaft gestalteten Improvisation zwischen Jazz und Jazzrock sowie der freien Improvisation in Stilbereichen zwischen Techno, Freejazz und Neuer Musik. Der notenfreie Umgangs mit Populärer Musik erfordert dabei Methoden, die auch anderen Themen zu Gute kommen. So ist beim Spielen und Singen Populärer Musik die unmittelbare Verfügbarkeit musiktheoretischen Wissens wichtiger als in der reproduzierenden Praxis. Damit gewinnt Musiktheorie eine wesentlich größere Bedeutung für den Musikunterricht, wobei sie jedoch nicht länger abstraktes Musikwissen bereitstellen, sondern durch die Reihenfolge "Erproben – Systematisieren" dazu beitragen soll, dass Kinder und Jugendliche das, was sie bereits spielen und singen können, auch zu benennen lernen. Patternkompositionsverfahren sowie das Arbeiten mit Leadsheets unter Verwendung der Akkord-Skalentheorie und variabler Formschemata machen somit das Klassenmusizieren mit den äußerst heterogenen und schwierig zu motivierenden Lerngruppen an der allgemein bildenden Schule erst möglich und sinnvoll (vgl. Terhag 1997).

Wie hier bereits deutlich wird, wurde Populäre Musik nicht nur wegen ihrer Bedeutung im Leben von Kindern und Jugendlichen in den Musikunterricht integriert, sondern auch auf Grund der durch diese Musik möglich werdende Erweiterung der Musikpraxis. Die positive Besetzung des Körpers ermöglicht dabei ein ganzkörperliches Musizieren, wobei der Körper u.a. einige Funktionen der Notenschrift übernimmt. Nicht zuletzt ist Populäre Musik bereits bei ihrer künstlerischen Konzeption untrennbar mit medialen Lebenswelten verbunden und auf diese bezogen. Eine CD-Produktion verweist weder auf ein Werk noch dokumentiert sie dieses, sie ist das Werk. Ohne die technisch-mediale Produktion von Musik im Studio und auf der Bühne und ohne deren massenmediale Distribution war Populäre Musik von Anfang an undenkbar, womit das Beispiel "Populäre Musik" direkt an das Beispiel "Neue Medien" anknüpft.

Literaturhinweise

  • Bechtel, Dirk: "Neue Medien im Musikunterricht" in: Terhag 2000. S.229-249.
  • Behne, Klaus-Ernst: "Die fremden Kinder oder: Wie viele musikalische Lebenswelten verkraftet die Musikpädagogik?" In: Musik und Bildung, Heft 6/93. S.13.. Mainz 1993.
  • Böhle, Reinhard C.: Aspekte und Formen interkultureller Musikerziehung. Frankfurt/Main, Verlag für Interkulturelle Kommunikation 1996.
  • Eckhardt, Rainer: "Nichts als Fragen? Musikalische Improvisation in der Schule" In: Terhag 2000. S. 182 - 193.
  • Bundesfachausschuss Musikpädagogik des Deutschen Musikrats: "Für die Zukunft musikalischer Bildung" In: Musik & Bildung 4/98. Mainz 1998, S. 59.
  • Dauer, Alfons Michael: "Don‘t Call My Music Jazz. Zum Musiktransfer von der Alten zur Neuen Welt und dessen Folgen" In: Terhag, Jürgen (Hg.), Populäre Musik und Pädagogik Bd. 1. Oldershausen 1994.
  • Dethlefs, Beate: "Musik (nur) in der Schule?" In: PädForum 4/2000, S. 275-277. Hohengehren 2000.
  • Enders, Bernd: "Multimedia und Musik" In: Festschrift Prof. Dr. J. P. Fricke, Köln 1995. Institut für Musikwissenschaft. Veröffentlicht Ende 1996 im Internet unter der Adresse: <http://www.uni-koeln.de/phil-fak/muwi/publ/fs_fricke/enders.html>
  • Farin, Klaus: Jugendkulturen zwischen Kommerz und Politik. Erfurt 1997.
  • Hempel, Christoph: Neue Allgemeine Musiklehre. Mainz, Atlantis-Verlag 1997.
  • Jank, Werner (Hg.): Schulmusik – ein Studium im Umbruch. Mannheim 1996.
  • KMK (Hg.): Zur Situation des Unterrichts im Fach Musik an den allgemeinbildenden Schulen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1998.
  • Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes NRW (Hg.), Empfehlungen zur Neuordnung des erziehungswissenschaftlichen Studiums in der Lehrerausbildung, Düsseldorf 1998.
  • Müller, Renate: "Oi-Musik und fremdenfeindliche Gewalt: Zur kulturellen Identität von Skinheads" (Teil 1 und 2) In: Musik und Bildung, Heft 3/94 , S. 46ff u. Heft 4/94, S. 44ff. Mainz. 1994.
  • Neitzert, Lutz: "Die Speerspitze der Stammtische. Die rechtsextremistische Jugendmusikszene", In: Terhag 1996, S. 107ff.
  • Neumann-Braun/Schmidt: "McMusic" In: Neumann-Braun, Klaus (Hg.): Viva MTV! Popmusik im Fernsehen. Frankfurt/M. 1999, S. 7 - 45.
  • Nimczik, OrtwIn: "Spielräume im Musikunterricht. Pädagogische Aspekte musikalischer Gestaltungsarbeit”. Frankfurt/Main 1991.
  • Ott, Thomas: "Zurück zur Papageienmethode? Orale Tradierung von Musik als Modell für Lernprozesse in Hochschule und Schule" In: Terhag 2000, S.22-33.
  • Rösing/Barber-Kersovan: "Musikvermittlung in der modernen Mediengesellschaft" In: Bruhn/Rösing (Hg.) Musikwissenschaft. Ein Grundkurs.. Reinbek, Rowohlt-Verlag 1998.
  • Schütz, Volker: "Welchen Musikunterricht brauchen wir?" In: AfS-Magazin 1/96, Lüneburg 1996, S.3ff.
  • Terhag, Jürgen: Populäre Musik und Jugendkulturen, Regensburg 1989.
  • ders. (Hg.) Populäre Musik und Pädagogik Bd. 1-3, Oldershausen 1994/1996/2000.
  • ders.: "Formen, Probleme und Perspektiven des Klassenmusizierens" In: Schütz, Volker (Hg.) Musikunterricht heute, Bd. 2, S.77ff, Oldershausen 1997/1.
  • ders.: "Der andere Umgang mit Musik. Möglichkeiten und Grenzen des schulischen Umgangs mit Populärer Musik", In: Musik und Unterricht 46/1997, S. 4ff. Seelze, Friedrich-Verlag 1997/2.
  • ders.: "Die Vernunftehe - Vierzig Jahre Populäre Musik und Pädagogik" In: Baacke, Dieter (Hg.): Handbuch 'Musik und Jugend'. Opladen 1998.
  • Welsch, Wolfgang: Transkulturalität – Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, In: Das Magazin 1994, Ausgabe 3, S. 10ff (Hg.: Wissenschaftszentrum NRW, Reichsstr. 45, 40217 Düsseldorf).
  • Zimmerli, Walther Ch.: "Bildung ist das Paradies" In: DIE WOCHE vom 14. Juli 2000.