Jürgen Terhag

Kurztexte

Gelingendes Klassenmusizieren zwischen JeKi und Adorno
Ein Kongressthema rührt an das Selbstverständnis des Schulfachs Musik

Dieser Beitrag möchte den Blick auf gelingendes Klassenmusizieren lenken als eine musikalische Tätigkeit, mittels derer ganze Schulklassen, angeleitet von ihren Musiklehrenden aber auch selbstständig, eigene musikalische Erfahrungen machen und diese mit allen anderen Tätigkeiten und Erfahrungen im Musikunterricht sinnvoll verbinden können.

Damit umfasst gelingendes Klassenmusizieren mehr als das verbreitete neo-musische Drauflosklöppeln im stilistischen Niemandsland. Hier kann also weder das Spielen von Rockriffs auf Xylofonen gemeint sein noch das weit verbreitete, geradezu bewusstlose Wiederholen unverstandener Patterns auf schlecht gestimmten Congas oder die pseudo-brasilianische Batucada. Um jedoch gleich zu Beginn dem Beifall von der falschen Seite vorzubeugen: Diese Unterscheidung hängt auf gar keinen Fall mit einer Unterscheidung zwischen „komplex“ und „elementar“ zusammen und sie soll auch nicht abgehoben von der Schulwirklichkeit die Notwendigkeit zur Elementarisierung in Abrede stellen: Das musikstundenlange notenfreie Musizieren mit Latin Percussion kann durchaus als gelingend bezeichnet werden, wohingegen das mühsame Buchstabieren eines anspruchsvollen Instrumentalsatzes nicht gelungen ist, wenn das Musikstück auch am Ende des Lernprozesses noch nicht fehlerfrei und im richtigen Tempo auf eine Weise realisiert wird, die allen Spielenden eine von spieltechnischen Hindernissen befreite Konzentration auf das Hören und Gestalten in angemessener Verarbeitungstiefe (vgl. Niessen 2010/2) ermöglicht. Und selbstverständlich kann auch das reine Grooven ebenso ästhetisch bildend sein (vgl. Wallbaum 2009) wie das schülernahe Experimentieren mit den Mitteln zeitgenössischer Musik (vgl. Nimczik/Rüdiger 1997 und 2004). Hier sollten in einem genre- und stilübergreifend angelegten Musikunterricht Grenzen überwunden statt aufgebaut werden.

Vor allem jedoch ist das Klassenmusizieren nur dann als gelingend zu bezeichnen, wenn Kinder und Jugendliche intrinsisch zum Musikmachen motiviert sind. Ein ausschließlich didaktisch begründetes Musizieren mit Schulklassen, das beispielsweise in winzigen Häppchen auf das Hören vorbereiten soll und dazu womöglich recht unverbunden mit dem Hören oder einem weiterführenden Unterrichtsgespräch sozusagen pflichtgemäß in den Musikunterricht eingestreut wird, ist in aller Regel nicht dazu geeignet, Kindern oder Jugendlichen weit reichende musikalische Erfahrungen zu vermitteln. Für ein gelingendes Klassenmusizieren sollte das Musikmachen selbst schon wirklich ernst genommen und nicht als methodisches Mittel(chen) missbraucht werden. Gelingendes Klassenmusizieren benötigt seine Zeit, die durchaus zu Lasten aller anderen Tätigkeiten und Erfahrungen im Musikunterricht geht, Letztere jedoch sehr befruchten und vertiefen kann.

Die Initiierung dieser hier nur skizzierten musikalischen Lernprozesse stellt höchste Anforderungen an Musiklehrerinnen und -lehrer, denen auf Grund der teilweise miserablen musikpraktischen Ausbildung auch am Ende der zweiten Ausbildungsphase bisher nur wenige genügen können. Die im Bereich des Klassenmusizierens besonders Erfolgreichen sind häufig pädagogische und/oder musikalische Naturtalente, die ihre schulisch wirksamen Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht im Rahmen ihrer Ausbildung erworben haben. Trotz enormer Verbesserungen in den letzten zehn Jahren müssten künftig bereits Studierende in der ersten Ausbildungsphase gründlicher auf diesen wichtigen Bereich ihrer späteren beruflichen Tätigkeit vorbereitet werden. Ein bisschen Liedbegleitung und Improvisation sowie ein paar Stunden Chor-, Orchester- und Bandleitung reichen nicht aus, um die vielfältigen Formen des Klassenmusizierens im Unterrichtsalltag bewältigen zu können. Auch das souveräne Abschneiden beim – sehr verdienstvollen! – Bundeswettbewerb Schulpraktisches Klavierspiel in Weimar ist keinesfalls ein Garant für den sinnvollen Einsatz des Klaviers im Rahmen eines gelingenden Klassenmusizierens. Hier sind zusätzlich noch spezielle musikpädagogische Veranstaltungen vonnöten, in denen die in den pädagogisch-künstlerischen Fächern erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten miteinander verzahnt und auf die Schulwirklichkeit bezogen werden. Dadurch könnten die bisher vor allem an das solistische Instrumentalspiel und den Sologesang angelegten hochschulischen Qualitätsmaßstäbe auch auf schulisch wirksame künstlerisch-pädagogische Bereiche übertragen werden, was nicht den rasch konstatierten Niveauverlust nach sich zöge, sondern allenfalls eine Niveauverlagerung in Richtung einer professionellen musikpädagogischen Berufsvorbereitung.

Auch die musikpädagogische Forschung und die wissenschaftliche Musikpädagogik sind gefragt, das Musizieren im Musikunterricht gründlicher zu untersuchen, seine Gelingensbedingungen zu erforschen und genauer zu untersuchen, welche didaktischen Entscheidungen zum Klassenmusizieren hinführen und welche dagegen sprechen: Sind alle Kinder und Jugendlichen prinzipiell motiviert zum Klassenmusizieren, wie häufig implizit unterstellt wird? Welche Formen des Klassenmusizierens motivieren unter welchen Unterrichtsbedingungen welche Kinder und Jugendlichen in welchen Altersstufen? Welche Formen des Klassenmusizierens scheitern unter welchen unterrichtlichen Bedingungen und welche gelingen besonders gut? Wie kann das Klassenmusizieren mit anderen Tätigkeiten und Erfahrungen im Musikunterricht verbunden werden? Auch hier weisen verdienstvolle Arbeiten in die richtige Richtung (Geuen/Orgass 2007; Klingmann 2010; Schäfer-Lembeck 2010), sie stellen aber erst einen Ausgangspunkt im Bestreben dar, dem Klassenmusizier-Boom auch theoretisch gerecht zu werden. Das vorliegende Heft möchte auch und vor allem für diese Facette musikpädagogischer Arbeit werben und sie als Desiderat verdeutlichen. Auch die „theoretische“ Musikpädagogik kommt häufig dem praktischen Unterrichtsalltag zugute (vgl. Barth in diesem Heft) und selbst Publikationen mit einem für gestandene Schulpraktiker äußerst sperrigen Titel können einen direkten Bezug zu deren musikpädagogischer Praxis aufweisen und beispielsweise gelingendes Klassenmusizieren argumentativ stützen (vgl. Geuen/Orgass 2007).

Diese Überlegungen führen zu einer Binsenweisheit, die aber immer wieder ins Gedächtnis gerufen gehört: Forschung und Wissenschaft benötigen ebenso eine Verankerung in der Ausbildung wie die musikalisch-künstlerische Arbeit. Häppchenweise serviert führen beide nicht weiter; intensiv thematisiert, aber voneinander isoliert auch nicht: Sowohl in der Schule als auch in der Ausbildung sind unterschiedliche Typen von musikpädagogisch Lehrenden gefragt, deren spezielle Profile mit Schwerpunkten z.B. im Bereich der künstlerischen Praxis, der Musik- oder der Erziehungswissenschaft sich in möglichst großen Schnittstellen ergänzen sollten. Sowohl die künstlerisch-pädagogische Arbeit als auch deren theoretische Begründung vor dem Hintergrund bewusster statt bequemer didaktischer Entscheidungen ist von zentraler Bedeutung für eine umfassende Ausbildung des musikpädagogischen Nachwuchses. Hier sollte das, was im Gespräch mit Lehrer/innen häufig als „die Theorie“ und „die Praxis“ künstlich voneinander getrennt wird, nicht gegeneinander, sondern miteinander wirken können!

Klassenmusizieren als polarisierendes Thema der Musikpädagogik

Über das Klassenmusizieren, verstanden als Singen, Spielen, Tanzen und Gestalten mit ganzen Klassen der allgemein bildenden Schule wird seit Jahrzehnten so leidenschaftlich wie kontrovers diskutiert: Für die einen stellt es als ein schüler- und musikorientierter Ausweg aus adornitischen Sackgassen das Fach Musik vom Kopf auf die Füße, für die anderen bedroht es als Rückfall in musische Zeiten den gleichberechtigten Status des Fachs Musik im schulischen Fächerkanon. Es gibt zwar vermutlich heute niemanden mehr, der oder die den Sinn des Musizierens im Klassenverband grundsätzlich bezweifelt, über die Fragen jedoch, in welcher Form, wie häufig und mit welchen Zielen dies geschehen soll, entbrennt immer wieder ein Streit, der durchaus an das Selbstverständnis des Schulfachs Musik rührt.

In seiner idealen Form sollte das Klassenmusizieren wie beschrieben Kindern und Jugendlichen selbstbestimmte musikalische Erfahrungen ermöglichen, die sowohl eine emotionale als auch eine kognitive Dimension aufweisen können. Dieser Aspekt der Selbstbestimmung ist vermutlich für Lernende wichtiger als die musikalischen Inhalte (vgl. Bruhn 2010; Niessen 2010/2) oder das Unterrichtsthema. Selbst die für das Klassenmusizieren perfekt Ausgebildeten können im Unterrichtsalltag scheitern, wenn sie sich nicht an diesen Grundsatz halten sondern stattdessen ihren Klassen lediglich „ein Lied mitgebracht“ haben – und sei dies musikalisch auch noch so geeignet. Letzteres musste auch ich neulich erfahren, als mir eine achte Gymnasialklasse den symbolischen Stinkefinger zeigte, weil ich für einen Praxisband einmal „schnell“ etwas ausprobieren wollte. Vor dieser durchaus angemessenen Reaktion einer jeden Schulklasse – in „braven“ Schulklassen wird sie lediglich unterdrückt – kann sich auch eine routinierte musikalisch-methodische Erfahrung gar nicht erst entfalten.

Es reicht es also nicht das immer wieder postulierte, aber letztlich pseudo-schülernahe Vorhaben, „die“ Schüler dort abzuholen, wo sie angeblich stehen, wir müssen uns als Lehrende dorthin begeben! Erst dort lässt sich anschließend gemeinsam überlegen, wohin die musikalische Reise gehen soll. Bezogen auf das Klassenmusizieren erfordert dies die Fähigkeit von Lehrenden, auf Wünsche, Abneigungen, Befindlichkeiten sowie auf situative Bedingungen im Musikunterricht flexibel mit musikalischen Mitteln (!) reagieren zu können. Diese Flexibilität ist für jede Form des Klassenmusizierens wesentlich wichtiger als beispielsweise dirigentische Fertigkeiten oder das authentische Gitarrenspiel; sie erfordert ein großes, abrufbereites Repertoire an musikalischem Material, mittels dessen die unterschiedlichen musikalischen Vorlieben und Fähigkeiten in einer Gruppe zunächst herausgefunden und dann evtl. aufgegriffen und weitergeführt werden können. Normierte, lehrgangsartige Modelle – so gut diese auch erdacht und erprobt seien – können dabei alleine nicht weiterhelfen; zumindest müssen sie um die angedeutete Flexibilität erweitert werden bzw. – noch besser – diese in ihrer Systematik bereits enthalten.

Aus hochschuldidaktischer Perspektive wird hier deutlich, dass sich auch aus den besten künstlerisch-pädagogischen Veranstaltungen wie Chorleitung, Neue-Musik-Workshops oder dem Einzelunterricht in Liedbegleitung nicht eine musikpädagogische Schulpraxis im Sinn guten Musikunterrichts ergibt. Zur Verbindung, zur methodischen Einbettung sowie zur schulspezifischen Erweiterung dieser Fähigkeiten und Fertigkeiten sind die bereits erwähnten weiterführend koordinierenden Lehrveranstaltungen unverzichtbar. 

In dieser Forderung wird ein Anliegen deutlich, für das dieser Beitrag werben und wovon er überzeugen möchte: Die künstlerisch-pädagogische bzw. pädagogisch-künstlerische Praxis sollte an Musikhochschulen und Universitäten sowohl in den Lehramtsstudiengängen als auch als Objekt wissenschaftlicher Forschung einen höheren Stellenwert bekommen. Der großen Gefahr, die dem allgemein bildenden Musikunterricht durch Projekte wie „Jedem Kind sein Instrument“ (JeKi) droht und die sich darin manifestiert, dass Politikerinnen, Eltern und Schüler froh sind, dass „endlich“ im Musikunterricht „etwas“ bisher anscheinend Vermisstes „passiert“, sollten wir dadurch begegnen, dass wir dem gelingenden Klassenmusizieren mehr professionelle Aufmerksamkeit in Forschung, Ausbildung und im alltäglichen Musikunterricht zukommen lassen. Die Antwort auf JeKi und alle anderen von außen an die schulische Musikpädagogik herangetragenen Klassenmusiziermodelle muss die skizzierte professionelle Ausbildung in diesem Bereich sein, die anspruchsvolles und schülernahes Musizieren mit den Vorzügen des allgemein bildenden Musikunterrichts verbindet.

Es gibt inzwischen curriculare Vorgaben, die das Klassenmusizieren als zentralen Schwerpunkt des Musikunterrichts ausweisen (vgl. Wallbaum in diesem Heft). Wenn ein solcher Schwerpunkt nicht zur bloßen Beschäftigungstherapie verkommen soll, muss beim Klassenmusizieren deutlich mehr geschehen als es der Sprechvers eines erfahrenen und gefragten musikpädagogischen Fortbildners (hoffentlich unbewusst) nahe legt: „Hallo Leute aufgewacht! Hier wird Rhythmus heut gemacht. Es wird getrommelt und gelacht – und ein bisschen nachgedacht.“ Auch stilblühende Ungereimtheiten wie die auf den Bach-Choral „Wohl mir dass ich Jesum habe“ bezogene Variation „Bach ist toll, ach so toll“ (vgl. Motazzi 1993), bei der „Reime“ gesungen werden müssen wie: „nicht gewachsen ist ihm Michael Jackson“ (ebd.) stellen eher Peinlichkeiten dar als unbrauchbare Materialien für das Klassenmusizieren. Hier werden alle Alpträume von Adorno-Apologeten bestätigt.

Die Musiklehrerinnen und -lehrer sind sehr häufig die einzigen professionell in Musik Ausgebildeten, die viele Schüler/innen im Laufe ihres Lebens aus allernächster Nähe kennen lernen. Vor diesem Hintergrund wäre es fatal, wenn diese sich und ihren Schulklassen die Chance entgehen ließen, Musik im praktischen Vollzug in der Gruppe in unterschiedlichsten Formen selbst zu erleben. Damit dies wiederum nicht zu billigem „Schulpop“ im stilistischen Niemandsland zwischen Götterfunken, Clave-Beats und Clayderman verkommt, müssen bereits Studierende lernen, mittels ganz spezieller musikpraktischer Fähigkeiten und Fertigkeiten mit einer im Regelfall musikalisch äußerst heterogenen Schulklasse in einem oft heiklen Gemisch aus Motivation, Angst, Widerstand und freudiger Erwartung stilistisch möglichst vielfältige und musikalisch wie gruppendynamisch passgenaue Musiziererlebnisse zu initiieren. Spätestens hier wird deutlich, dass dies nicht nur „Handwerk“ ist, sondern eine musikpädagogische Schlüsselqualifikation: Durch eine musikalisch und pädagogisch anspruchsvolle Integration des Klassenmusizierens in den allgemein bildenden Musikunterricht würden sicherlich viel mehr Kinder und Jugendliche ihrem Musikunterricht die gleiche (nicht dieselbe!) Begeisterung entgegenbringen wie der Musik selbst, denn „guter“ Musikunterricht scheint eng mit dem Thema „Klassenmusizieren“ zusammenzuhängen, wie der folgende Abschnitt deutlich machen soll.

Klassenmusizieren in der Außen- und Innensicht

Seit über zwanzig Jahren stelle ich Musikstudierenden in den unterschiedlichsten Seminar- und Gesprächssituationen die zugegebenermaßen simple Frage, wodurch sich für sie ganz persönlich ‚guter’ Musikunterricht von ‚schlechtem’ unterscheide. Bei den zahllosen Antworten, die bisher auf diese Weise zusammengekommen sind, war bisher nicht eine dabei, bei der das Thema „Klassenmusizieren“ nicht eine zentrale Rolle gespielt hätte: Ein Musikunterricht wird dann als ‚gut’ bezeichnet, wenn er in gelungener Weise das Musizieren mit der ganzen Klasse integriert. Entsprechendes gilt für die rückblickende Erinnerung der Studierenden an selbst erlebten Musikunterricht: Auch die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale für ‚gute’ und ‚schlechte’ Musiklehrer/innen hängen anscheinend eng mit deren Fähigkeit zusammen, Musik mit oder vor der Klasse zum Klingen zu bringen. Natürlich lässt sich hier einwenden: „Kommt immer drauf an, wer fragt...“ und vermutlich ist es in der Tat so, dass ich in meinen zahlreichen Fortbildungen zu Themen aus dem Bereich des Klassenmusizierens viele erlebe, die diese Veranstaltungen aus Unzufriedenheit mit selbst Erlebtem besuchen. Sicherlich erhalten andere Kolleginnen und Kollegen auch andere Antworten, aber in meinem musikpädagogischen Umfeld ist die positive Einschätzung des Musizierens mit ganzen Schulklassen der Regelfall.

Fühlen Sie einmal bei sich selbst nach: spätestens an dieser Stelle wird durch Ihre eigenen Emotionen – entweder wohlige Zustimmung oder heftige Ablehnung – deutlich, dass der Lübecker AfS-Bundeskongress in diesem Jahr ein durchaus polarisierendes Thema in den Mittelpunkt stellt, das sich für ganz unterschiedliche Zeitgenossen aus ebenso unterschiedlichen Gründen eigentlich überhaupt nicht für einen eigenen Kongress eignet: Für die einen ist das Thema als Kongress-Schwerpunkt sozusagen zu selbstverständlich, weil für sie Musikunterricht gleichbedeutend mit Klassenmusizieren ist, den anderen erscheint genau diese Gleichsetzung problematisch und das Kongressthema zu einseitig.

So verständlich die Skepsis gegenüber dem Klassenmusizieren als Unterrichtsschwerpunkt bei näherer Betrachtung unserer Fachgeschichte auch sein mag, so unverständlich ist der reflexhaft geäußerte Vorwurf musischer Ideologieanfälligkeit immer dann, wenn sämtlichen Formen des Klassenmusizierens – vom musikalischen und pädagogischen Zusammenhang völlig abgekoppelt – pauschalisierend unterstellt wird „leicht und von sich aus (...) politisch instrumentalisierbar und anfällig für Totalitäres“ (Khittl 2009/41) zu sein. Gilt das wirklich auch für den beim Klassenmusizieren von einer neunten Klasse selbstständig entwickelten Rap, in dem die Jugendlichen das Lehrerkollegium der Schule gekonnt und witzig durch den Kakao ziehen? Hier sollten wir die Kirche im Dorf lassen: Wie „musisch anfällig“ ein Unterricht ist, hängt auch von den Lehrenden und nicht nur vom Thema ab: Ein Unterrichtsgespräch kann durchaus „musischer“ sein als eine ausschließlich gruppendynamisch begründete Groove-Erfahrung (vgl. Wallbaum 2009).

Ganz besonders unverständlich ist die skeptische Haltung gegenüber dem Klassenmusizieren jedoch außerhalb unserer Fachöffentlichkeit, denn die Erwartungen von Kindern, Jugendlichen, Eltern und der Politik an den Musikunterricht sind untrennbar mit Musizier-Erlebnissen verknüpft. Die fachhistorisch begründete Vorsicht gegenüber dem Klassenmusizieren und die öffentliche Erwartungen an den Musikunterricht geraten hier nicht selten in Widerspruch zueinander. Wer diesen Zusammenhang als unwissenschaftlich, populistisch oder naiv betrachtet hat ein bisschen Recht, darf sich aber dann nicht wundern, wenn Ansehen und Bedeutung des Schulfachs Musik in der Gesellschaft abnehmen. So beklagt Reinhard Brembeck in einem Leitartikel der Süddeutschen die negativen Folgen der Adornokritik:

Immer wieder wird in diesem Zusammenhang Theodor W. Adornos Musikantenkritik zitiert: „Nirgends steht geschrieben, dass Singen not sei." Ein unseliger Satz, der die deutsche Musikpädagogik lange geprägt hat. Erst seit einiger Zeit findet diese nun wieder zum praktischen Tun zurück. Schließlich würde kein Musiker bestreiten, dass Singen die Grundlage aller Musik ist. Auch des Instrumentalspiels, auch des – nur scheinbar unbeteiligten – Musikhörens. (Brembeck 2010/4)

Zur Entwicklung des Klassenmusizierens

Es ist kein Zufall, dass gerade der Arbeitskreis für Schulmusik (AfS) das Ausloten der Möglichkeiten und Grenzen des Musizierens mit ganzen Schulklassen ins Zentrum eines Bundeskongresses stellt, befasst sich dieser Verband doch seit über dreißig Jahren schwerpunktmäßig mit diesem Thema. Seine Renaissance während der späten 1970er Jahre verdankt das Klassenmusizieren, das inzwischen sämtliche musikalischen Stile und Genres umfasst, historisch zunächst einmal der Popdidaktik, die auch das Fortbildungsangebot des AfS über lange Zeit bestimmte, sozusagen in Personalunion verkörpert durch Dieter Lugert und Volker Schütz, die als AfS-Bundesvorstände sowie als Gründer des Lüneburger „Instituts für Didaktik Populärer Musik“ das Thema Klassenmusizieren stets eng mit Populärer Musik verbunden hatten:

„Auf solchen Erkenntnissen aufbauend entwickelten dann Dieter Lugert und ich Ende der 1970er unsere Vision, die Musikpädagogik sozusagen vom Kopf auf die Füße zu stellen. Wir hatten selbst mannigfaltige Erfahrungen mit unterschiedlichster Musik gemacht und dadurch auch eine emotionale Bindung an viele Bereiche der Populären Musik – und das in Zeiten, in denen man sich in der Musikpädagogik noch über diese Musik lustig machte und natürlich auch die Kollegen diffamierte, die mit ihr umgingen. Und da wir in der Lehrerausbildung beschäftigt waren, aber auch schon selbst Erfahrung an allen Schulformen sammeln konnten, wollten wir bei denen beginnen, die am meisten Hilfe brauchten, und haben 1980 zu einer ersten Lehrerfortbildung eingeladen. Mit den Kolleginnen und Kollegen, die dann erschienen, wollten wir nun jedoch nicht nur über Populäre Musik reden, sondern wir wollten das kreative Potenzial dieser Musik vermitteln, ihr Bewegungspotenzial, ihre Dynamik und diese Form der Energie, die man von der Klassik gar nicht kannte. Wir haben dann versucht, genau diese speziellen Momente zu fassen, dazu kleine Arrangements zu schreiben und haben dann erst einmal einfach Musik gemacht.“ (Schütz in Terhag 2010/44)

Stellten diese ersten Ansätze zum Musizieren mit Schulklassen eine wichtige Pioniertat innerhalb der praktisch orientierten Musikpädagogik dar, die sich inhaltlich und methodisch zunächst auf Populäre Musik konzentrierte, umfasst das Musizieren im Klassenverband der allgemein bildenden Schule heute wesentlich mehr und dominiert vielerorts den Musikunterricht in allen Stilbereichen. In Zeiten von Bläser-, Streicher und Percussion-Klassen, ergänzt um neue Steigerungsformen wie „JeKi – JeKiS – JeKisSti“ beschreibt Johannes Bähr das Klassenmusizieren in Werner Janks Standardwerk „Musikdidaktik“ als „erfolgreichen, aber nicht widerspruchsfreien musikpädagogischen Trend“ (Bähr 2007/159) so umfassend wie pragmatisch wie folgt:

„Im umfassenden Sinne ist Klassenmusizieren in der allgemein bildenden Schule eine gemeinsame musikalische Tätigkeit aller Mitglieder einer Lerngruppe.“ (Bähr 2007/160)

Bähr konkretisiert, Klassenmusizieren sei „didaktisch-methodisch geplante, gemeinsame Ausübung mit Gesang, Instrumentalspiel, Bewegung und Szene – einzeln bzw. in Kombination“ (ebd.) Auch hier wird deutlich, dass das Musizieren mit ganzen Schulklassen heutzutage sämtliche Stilbereiche der Musik sowie die Nutzung aller instrumentalen und vokalen Mittel einschließlich Tanz und Bewegung umfasst. In den vielfältigen Kooperationsprojekten mit Musikschulen und in fächerübergreifenden Studiengängen wird zudem immer deutlicher, dass sinnvoller Gruppenunterricht und Klassenmusizieren sehr vieles gemeinsam haben: Bei beidem steht das Musizieren mit leistungsheterogenen Großgruppen im Vordergrund, was gruppenzentrierte Lernformen und binnendifferenzierende Methoden erfordert, die daher auch in der Ausbildung für sämtliche musikpädagogischen Praxisfelder berücksichtigt werden sollten.
Auch die Interkulturelle Musikpädagogik wurde und wird durch das Musizieren mit Schulklassen bestimmt, nicht erst seit Irmgard Merkt den Grundsatz formulierte, die IKM beginne „mit Musikmachen, nicht mit Musikhören“ (Merkt 1993/5) und sich damit über musikethnologische Bedenken hinwegsetzte. Hier ist jedoch wie bei jedem musikalischen Inhalt des Klassenmusizierens zu fragen, inwieweit das Nachspielen der Musik fremder Kulturen durch die beschränkten Gestaltungsmöglichkeiten im Klassenverband dem Original gerecht werden kann. Zumindest ist gut zu überlegen, welche Musik hier ausgewählt und welchen Mitteln sie realisiert werden kann.

Eine entscheidende Frage besteht darin, ob das Musizieren mit Schulklassen ästhetisch bildend sein kann oder nicht. Bei der Beantwortung dieser Frage beschreibt Christopher Wallbaum bezogen auf das ausschließlich rhythmische Musizieren („Grooven“) die Qualität des Ästhetischen wie folgt: Sie

„... zeigt sich uns aber erst in erfüllter Praxis, d.h. wenn das Objekt (das kann auch eine Improvisation oder ein Stück Natur sein), das wir in ästhetischer Einstellung wahrnehmen, den ästhetischen Interessen, die mit unserer enkulturierten Einstellung verbunden sind, entgegenkommt. Wenn die Relation zwischen Subjekt und Objekt stimmt. In der ästhetischen Kommunikation schließlich verständigen wir uns mit anderen darüber, ob und wie eine attraktive Relation zwischen Wahrnehmung und Objekt herzustellen ist. Attraktiv, gelungen oder schön nennen wir ein Objekt oder ein Situationsarrangement, wenn es uns erfüllte Vollzüge ermöglicht hat und wir annehmen, dass es anderen Menschen ebensolche ermöglichen müsste.“ (Wallbaum 2009/43)

Wallbaums Darstellung praktischer Erfahrungen aus ästhetischer Praxis mit Samba-Trommeln mündet in zwei ausführlich hergeleiteten und begründeten musikwissenschaftlichen Hypothesen, nach denen das Grooven (1) ein kulturunabhängiges Musikphänomen (ein musikalisches Urphänomen)“ ist (Wallbaum 2009/54) und es (2) „mehrere kulturunabhängige Musikphänomene“ (ebd.) dieser Art gibt:

Darüber hinaus liegt die Vermutung nahe, dass es außer dem Grooven noch andere bloß sinnliche (= kontemplative) ästhetische Praxen gibt, in deren Vollzügen Menschen elementare Urphänomene erfahren. (...) Dies zu erforschen erscheint als ein Desiderat musikwissenschaftlicher Forschung. (ebd.)

Wallbaum beschließt seinen Text mit einer musikdidaktischen Hypothese, die in die Forderung mündet, nach der die „Erfahrung von Grooven sowie der weiteren musikalischen Urphänomene (...) einen zentralen Platz in einem Kerncurriculum Musik für allgemein bildende Schulen einnehmen“ (ebd.) müsse, ein Desiderat, das auch einem besonders argwöhnisch betrachteten Bereich des Klassenmusizierens einen Platz im allgemein bildenden Unterricht sichern soll:

Dritte Hypothese (musikdidaktisch): Grooven und weitere kulturunabhängige Musikphänomene gehören in ein Kerncurriculum Musik.“ (ebd.)

Nicht nur im Zusammenhang mit dem Rhythmuslernen (vgl. Rolle/Schneider 2009) wird deutlich, dass beim Klassenmusizieren mehr und andere Ziele im Vordergrund stehen als beim Ensemblespiel in Schule und Musikschule: Neben den in der Ensemblepraxis üblichen Übe-, Motivations- und gruppendynamischen Effekten bezogen auf ein Konzertereignis können beim Klassenmusizieren beispielsweise das grundsätzliche Erlernen von Instrumenten, der allgemeine musikbezogene Erkenntnisgewinn oder das Vertrautwerden mit musiktheoretischen Gesetzmäßigkeiten im Vordergrund stehen. Selbstverständlich ist der Übergang zwischen Klassen- und Ensemble-Musizieren fließend, wenn die angedeuteten unterrichtlich Lerneffekte zusätzlich auch in konzertante Formen vom Klassenkonzert bis zur (schul)öffentlichen Performance münden.

Auch in Unterrichtsprozessen jedoch stellt das „imaginäre Publikum“ (vgl. Terhag 2009/121f) eine zentrale Richtschnur für das ästhetische Bewusstsein von Lehrenden und Lernenden dar. Dieses Hilfsmittel beim Klassenmusizieren meint nicht etwa ein tatsächlich vorhandenes Publikum, sondern eine Kontrollinstanz für Anleitende, aber auch für Gruppenmitglieder, mittels derer uninspiriertes Herumgrooven oder musisches Geklimper vermieden werden kann. Alle versetzen sich möglichst häufig in die Rolle eines (wohlwollend-kritischen ...) Publikums und überprüfen, wie das Erklingende in dieser Rolle wirkt: Ist die Musik abwechslungsreich, stilistisch möglichst authentisch, groovt sie? Oder ist sie banal oder gar nervtötend? Alle unterrichtlichen Phasen beim Klassenmusizieren sollten so gestaltet werden, dass die Kontrolle durch das imaginäre Publikum für möglichst alle Beteiligten möglichst zufriedenstellend ausfällt. Für Lehrende bedeutet dies, sich ab und zu in eine Rezipientenrolle zu begeben, in dieser Rolle bewusst zu lauschen und das Erklingende innerlich zu bewerten – also nicht als Lehrende stolz auf das Erreichte zu sein („Für die 6c klingt das doch bereits ganz gut“) sondern kritisch zu fragen, ob man sich das Erklingende auch freiwillig anhören würde. Diese Forderung klingt je nach Blickwinkel banal oder utopisch, hilft aber bei strikter Beachtung entscheidend dabei, die Qualität des Klassen- und Gruppenmusizierens selbstverantwortlich zu sichern und darüber hinaus bei einiger Übung Gespräche über musikalische Prozesse und deren Qualität in Gang zu bringen.

Praxis- und Theorie-Stigmata als zwei Seiten derselbe Medaille

Bei vielen Kongressen und Fortbildungen der musikpädagogischen Verbände lässt sich eine seit Jahren zunehmende Stigmatisierung des Begriffs „Theorie“ beobachten: Quer durch alle Schulformen und Bundesländer werden Fortbildungen, die keinen direkten Nutzen für die Unterrichtspraxis versprechen, immer seltener besucht; oft fallen sie mangels Nachfrage schlichtweg aus und werden schließlich nicht mehr angeboten. Der hier deutliche werdende, problematische „Gegensatz“ von Theorie und Praxis hat seine Ursache u.a. darin, dass in der Vergangenheit – und leider teilweise auch noch in der Gegenwart – Lehrer/innen schlecht oder überhaupt nicht für ihre alltägliche Berufspraxis ausgebildet wurden: Sie müssen dann nachträglich und notgedrungen den musikpraktischen Teil ihrer Ausbildung mittels Fortbildung nachholen und reagieren dadurch geradezu allergisch auf Fortbildungsinhalte, durch die ihr Unterricht scheinbar nicht direkt verbessert werden kann; außerdem reagieren sie geradezu genervt auf alle Formen des Theoretisierens, mit denen sie – durch die fehlende berufspraktische Erfahrung während des Studiums – damals viel zu früh konfrontiert wurden, obwohl „theoretische“ Erkenntnisse der Musikpädagogik ihrem Unterrichtsalltag durchaus zugute kämen (vgl. Niessen 2010/1).

Die Theorieverdrossenheit vieler Musiklehrer/innen hängt also zum Teil mit der als zu „theoretisch“ wahrgenommenen Ausbildung zusammen: Wer für zentrale praktisch-musikalische Arbeitsfelder noch nicht gründlich genug ausgebildet ist, muss alle eher theoriebezogenen Fortbildungen als „unnötigen Luxus“ empfinden. Auch dies verkennt in fataler Weise den Wert der wissenschaftlichen Musikpädagogik für die alltägliche Unterrichtspraxis, denn die Beschäftigung mit aktuellen musikpädagogischen Konzepten führt in vielen Fällen geradewegs in eine künstlerisch-pädagogische Praxis – jedoch in eine kontextuell eingebundene, reflektierte und sinnvolle Praxis, die der speziellen Aufgabe einer allgemein bildenden Schule gerecht wird und sich nicht auf das "Musikmachen" reduziert. Die generelle Theorieverdrossenheit hat dagegen zur Folge, dass bei vielen Bundes- und Landeskongressen selbst die interessantesten Vorträge von hochkarätigen Referent/innen neben den attraktiven „Praxisschienen“ nahezu unbeachtet bleiben.

Die Lehreraus- und Fortbildung müssten vor diesem Hintergrund neu justiert und im Sinne des lebenslangen Lernens als umfassend verstandene Lehrerbildung wesentlich stärker miteinander verbunden werden. Hier wäre dann auch ein sinnvoller Ort, die theoretischen und praktischen Bereiche der Ausbildung sinnvoll miteinander zu verzahnen. Da ein musikpädagogisches Studium vielen jedoch nicht als Berufsausbildung gilt, wird hier sowohl im künstlerischen als auch im wissenschaftlichen Bereich der Begriff „Praxis“ oft abwertend gebraucht. Zwar wird die Schulpraxis immer wieder als Ziel allen Bemühens bezeichnet, im Studienalltag gerät sie dann jedoch zwischen Querflötenunterricht, Musikgeschichte und didaktischen Konzeptionen zu oft aus dem Blick bzw. soll sich später aus einer Kombination von künstlerisch-wissenschaftlichen Kenntnissen und Fähigkeiten sozusagen von selbst ergeben. Auch in der zweiten Ausbildungsphase wird die musikalisch-pädagogische Praxis dann meist nicht mehr vermittelt, aber – besonders inkonsequent – bereits eifrig zensiert.

Die Abwertung alles Praktischen ist weit verbreitet. So wird in vielen Ausbildungsinstituten immer noch säuberlich zwischen Klavierspiel und „schulpraktischem" Klavierspiel unterschieden, wobei das Fach „SchuPra“ trotz seiner zunehmenden Verankerung in den Studien- und Prüfungsordnungen und trotz zunehmender professoraler Betreuung meist nicht so angesehen ist wie der „richtige“ Klavierunterricht. Im Bestreben um Anerkennung hat sich inzwischen auch dieses Hochschulfach in den letzten Jahren immer mehr von der Schulwirklichkeit entfernt und ist zu einer eigenen künstlerischen Ausdrucksform geworden, was musikalisch durchaus faszinierend ist, wenn es sich nicht im stilistisch vorbewussten „SchuPra-Sound“ verliert. Vermutlich beschreibt diese Entwicklung das Schicksal eines jeden professoral besetzten künstlerischen Faches. Fast erhält man den Eindruck, dass hier der „Makel“ des Schulbezugs überwunden werden soll.

Vergleichbares gilt für schulpraktisches Arrangieren, Dirigieren oder Ähnliches: Der Zusatz „praktisch“ oder „Praxis“ erhält auch hier – ähnlich übrigens wie das einschränkende „Schulmusik“ – eine vergleichende und damit meist negative Bedeutung. Zum Glück ist diese Entwicklung tendenziell rückläufig und aus diesem Grund wird im Lübecker Kongress-Untertitel die Praxis bewusst und selbstbewusst groß geschrieben. Der schulische Praxisbezug sollte auch in einer zeitgemäßen Musiklehrerbildung einen ganz zentralen Stellenwert bekommen, da die Studierenden an keiner anderen Stelle der Berufsausbildung auf das Praxisfeld Schule vorbereitet werden. Hierbei ist selbstverständlich mehr gemeint als die künstlerisch-pädagogische Praxis, denn auch Beratung, Bewertung, der Umgang mit Disziplinproblemen usw. gehören zur praktisch-pädagogischen Ausbildung. Im gesamten Fortbildungsbereich werden dagegen unter dem Begriff „Praxis“ meist automatisch und ausschließlich künstlerisch-pädagogische Inhalte verstanden, weil diese lange Zeit besonders vernachlässigt wurden. Auch wenn solche Fortbildungen dafür sorgen können, eventuell noch vorhandene Ausbildungslücken zu stopfen, sollten in einer umfassend verstandenen Lehrerbildung von Anfang an die künstlerische, pädagogische und wissenschaftliche Praxis einen möglichst engen Zusammenhang aufweisen.

Die pädagogische Praxis fristet in den meisten Ausbildungsinstitutionen jedoch noch ein Schattendasein. Meist gibt es institutionalisierte künstlerische und wissenschaftliche Hürden vor einem Lehramtsstudium, die in Form mündlicher Prüfungen und Klausuren die künstlerisch bzw. wissenschaftlich Ungeeigneten vom Studium fernhalten sollen. Mittlerweile gib es an einigen Instituten auch vergleichbare Hürden für pädagogisch Ungeeignete oder Uninteressierte, die erst viel zu spät – in der zweiten Ausbildungsphase oder sogar erst im Berufsalltag – feststellen, dass sie nicht in den schwierigen und anspruchsvollen Musiklehrerberuf passen. Mit viel Glück für alle Beteiligten wechseln die ausschließlich künstlerisch oder wissenschaftlich Interessierten nach dem Praxisschock durch Schulpraktika in andere Studiengänge. Um solche unnötigen Um- und Irrwege zu verhindern, müssten noch mehr pädagogisch orientierte Eingangshürden in Form von gruppenspezifischen Teilprüfungen, bewerteten Kolloquia o.Ä. eingeführt werden sowie ein System von für den Studienerfolg wichtigen, benoteten Praktika. Hierdurch hätten dann umgekehrt auch diejenigen bessere Studienchancen, die von Anfang an eine originäre pädagogische Motivation für ein Lehramtsstudium mitbringen.

Auch die wissenschaftliche Musikpädagogik hat zuweilen ein gebrochenes Verhältnis zur künstlerisch-pädagogischen Praxis, wenn beispielsweise ein praxisnahes Thema als nicht dissertationswürdig gilt, obwohl die Dissertation das entscheidende Zulassungskriterium für die Mitarbeit in der Lehrerbildung ist. Selbstverständlich ist Empörung angebracht, wenn zur Besetzung einer musikpädagogischen Professur auf die Dissertation verzichtet werden soll; dieselbe Empörung wäre aber auch beim Fehlen der pädagogischen Qualifikation wünschenswert, vor allem weil es gerade die musikpädagogischen Veranstaltungen sind, die praxisgeschockten Berufsanfänger/innen als Rollenmodell dienen.

Ein Kongressthema rührt an das Selbstverständnis des Schulfachs Musik

Viele „Praktiker“ gelten als hemdsärmelig – und leider sind sie es innerhalb des hier beschriebenen Teufelskreises auch, denn ein praxisskeptischer Wissenschaftsbegriff verhindert, dass praxisrelevante Themen mit jener wissenschaftlichen Gründlichkeit untersucht und mit jenem Aufwand und Elan bearbeitet werden, die eine Dissertation nach sich zieht: Ist es vermessen oder naiv, zu verlangen, dass eine musikpädagogische Dissertation auch einmal der praktizierenden Musiklehrerin bei ihrer alltäglichen Praxisbewältigung helfen können müsste? Die unselige Trennung in eine angeblich hemdsärmelige Praxis und eine angeblich trockene Wissenschaft sorgt dafür, dass die Musikpädagogik hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt, diese beiden Bereiche sinnvoll miteinander zu verbinden, wobei selbstverständlich in einem entsprechend großen Team auch künstlerisch-pädagogisch ausgewiesene Kolleg/innen die Leitung eines Lehramtsstudiengangs übernehmen könnten.

Fragen an das Thema „Klassenmusizieren“

Vor dem hier skizzierten Hintergrund sollen beim Bundeskongress für Musikpädagogik 2011 unter dem Thema „Musizieren mit Schulklassen. Praxis • Konzepte • Perspektiven“ die in großer Zahl vorhandenen praxisnahen Konzepte vorgestellt, miteinander verglichen und einander gegenübergestellt werden, um die didaktische und fachpolitische Dimension des Klassenmusizierens kritisch-konstruktiv auszuloten. Zu diesem Zweck werden in den zahlreichen Kursen, Workshops, Vorträgen und Seminaren des Kongresses Fragen wie die folgenden an das aktuelle musikpädagogische Thema gestellt – und hoffentlich in Teilen beantwortet. Viele der im Folgenden angegebenen Themenfelder stellten dabei im oben angesprochenen Sinne durchaus lohneswerte wissenschaftliche Forschungsprojekte dar:

  • Versuch einer Bestandsaufnahme: Welche aktuellen Formen und Methoden des Klassenmusizierens gibt es inzwischen und wodurch unterscheiden sich diese voneinander?
  • Wie und mit welchen didaktischen Konzepten lassen sich unterschiedliche Formen des Klassenmusizierens begründen?
  • Welche unterrichtlichen Ziele sind mit Klassenmusizieren zu erreichen und welche nicht? Bereitet das Musizieren auf das Hören vor oder ist dies ein Irrglaube (vgl. Heß 2007)?
  • Welche didaktischen Entscheidungen liegen dem Klassenmusizieren zugrunde?
  • Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen des Musizierens mit ganzen Klassen?
  • Gibt es Unterschiede zwischen der musischen Erziehung und dem selbstvergessenen Klassenmusizieren der Gegenwart? Ist die Conga die Blockflöte des 21. Jahrhunderts? Was würde Adorno zum Klassenmusizieren sagen? (vgl. dazu Ott in diesem Heft)
  • Ist Klassenmusizieren ein Unterrichtsprinzip oder bloße Beschäftigungstherapie?
  • Wie lassen sich Klassenmusizieren und andere Inhalte des Musikunterrichts miteinander verbinden?
  • Wie lässt sich das Klassenmusizieren schülerorientiert durchführen?
  • (Wie) dient das Klassenmusizieren der Kulturerschließung?
  • usw.

Hier sind selbstverständlich auch Fragen zu stellen, die sich „kritisch mit den Modellen so genannten Klassenmusizierens" (Khittl 2009/40) befassen und in der immer wieder gestellten Frage gipfeln, wer als musikalisch gebildet gelten könne:

„Derjenige, der auf Grundlage der entsprechenden Terminologie musikalische Tatsachen benennen kann; derjenige, der Musik zwar ausführen, aber darüber nicht mit entsprechender Terminologie sprechen kann, oder derjenige, der Musik als ästhetische Erfahrung in sein Leben integriert, ohne sie jedoch ausführen oder korrekt benennen zu können.“ (Khittl 2009/41)

Auch wenn diese durchaus wirklichkeitsnah ausformulierten Alternativen aus Sicht des gelingenden Klassenmusizierens klingen wie die Wahl zwischen Pest, Cholera und Syphilis, bleiben Fragen beispielsweise an das hier von Christoph Khittl kritisierte Konzept des „Aufbauenden Musikunterrichts“ zu stellen, das eng mit dem Klassenmusizieren verbunden ist, sich aber nur dann „zu einer integrativen, verknüpfenden und im besten Sinne ‚konjunktiven’ Musikdidaktik der Zukunft entwickeln“ (Khittl 2009/44) kann, wenn der Zusammenhang zwischen Formen des Klassenmusizierens und jenem Bereich geklärt ist, der im Aufbauenden Musikunterricht als „Kulturerschließung“ beschrieben, aber noch zu wenig konkretisiert wird. Auch Werner Janks Bemerkung, beim „Verzicht auf aufbauendes Lernen“ bleibe „Kreativität begrenzt auf das (meist sehr wenige), was die Schüler ohnehin schon können“ (Jank 2005/115), ist aus Sicht eines fantasievollen und schülerorientierten Klassenmusizierens zumindest missverständlich: Nicht nur mit dem Konzept des Live-Arrangements (vgl. Terhag/Winter 2011) sondern bei allen kreativen Formen des Klassenmusizierens wird systematisch vermittelt, wie Unterrichtende all das aus Gruppen herauslocken können, was Kinder und Jugendliche an vielfältigen musikalischen Erfahrungen mitbringen.

Der Arbeitskreis für Schulmusik hofft, mit dem Lübecker Kongress und diesem Sonderheft von „Diskussion Musikpädagogik“ der Beantwortung der hier nur angerissenen Fragen näher zu kommen, die sowohl für die unterrichtliche Praxis als auch für die Ausbildung zentral sind. Da beim hier vorgestellten Thema auch zunehmend die Kooperation zwischen Musikschule und allgemein bildender Schule gefordert ist, wird sich eine komplette thematische Schiene mit Themen beschäftigen, die für die Musikschularbeit wichtig sind und Kooperationsmodelle vorstellen und zielgruppenübergreifende Methoden und Ziele in den Vordergrund stellen. Diese Schiene wird als „Visitenkarte“ von unserem Partnerverband VdM (Verband Deutscher Musikschulen) durchgeführt, um der Tatsache Nachdruck zu verleihen, dass künftig eine enge und konzeptionell verzahnte Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Institutionen musikalischer Bildung erforderlich ist statt des immer wieder anzutreffenden eifersüchtigen Kompetenzgerangels. Vor allem im fachpolitischen Raum ist in diesem Zusammenhang die Forderung zu stellen, dass durch die künftig erforderliche Kooperation beim Thema „Musizieren mit Schulklassen“ nicht der kleinste gemeinsame Nenner sondern das größte gemeinsame Vielfache entsteht.

Literaturhinweise

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  • Jank, Werner: Plädoyer für Artenvielfalt. In: Schäfer-Lembeck 2005. S.109 – 118.
  • Jank, Werner (Hg.), Musikdidaktik. Berlin 2007.
  • Khittl, Christoph: ’Die ewige Wiederkehr’? oder: Wie die Musikpädagogik ihre Geschichtlichkeit (nicht) reflektiert am Beispiel des ‚Aufbauenden Musikunterrichts’. In: Diskussion Musikpädagogik 43, Nr. 3/2009. S. 39 – 46. Altenmedingen 2009.
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  • Lehmann, Andreas C. / Weber, Martin (Hg.): Musizieren innerhalb und außerhalb der Schule. Essen 2008.
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  • dies.: Teamwork! Sprache, Bild, Bewegung, Szene: neue Musik für Schülerensemble. Mainz 2004.
  • Ortwin Nimczik: Studienfeld Klassenmusizieren: Ein Schwerpunkt im Studiengang Schulmusik an der Hochschule für Musik Detmold. In: Schäfer-Lembeck 2005. S. 125 - 137.
  • Rolle, Christian / Schneider, Herbert (Hg.): Rhythmus! Studien und Materialien zur musikpädagogischen Arbeit über und mit Rhythmen. Regensburg 2010.
  • Schäfer-Lembeck, Hans-Ulrich (Hg.): Klassenmusizieren als Musikunterricht? Theoretische Dimensionen unterrichtlicher Praxen. Beiträge des Münchner Symposions 2005. München 2005.
  • Terhag, Jürgen: Live-Arrangement. In: Jank 2007. S. 167 – 176.
  • ders.: Warmups. Musikalische Übungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Mainz. Schott music. 2009.
  • ders.: 50 Jahre Populäre Musik in der Schule. Podiumsdiskussion zum Kongressthema. In: Maas/Terhag (Hg.) Musikunterricht heute Band 8. S. 10 – 26. Handorf 2010.
  • Terhag, Jürgen / Winter, Jörn: Live-Arrangement. Mainz 2011 (i.V.)
  • Vogt, Jürgen: ‚Adorno revisited’. oder: Gibt es eine ‚Kritik des Klassenmusikanten’ ohne kritische Theorie der Musikpädagogik? In: Schäfer-Lembeck 2005. S. 13 – 25.
  • Wallbaum, Christopher: Ist Grooven ästhetisch bildend? In: Rolle/Schneider (Hg.) 2009. S. 42 – 55.