Jürgen Terhag

Kurztexte

Musikkulturen – fremd und vertraut
Interkulturelle Musikpädagogik

Die Welt der Musik wird farbiger, denn die Musik der Welt nähert sich einander an. In Zukunft werden globale und lokale Musikkulturen vermutlich immer neue Verbindungen eingehen, wobei die Musikpädagogik mit dafür sorgen sollte, dass diese nicht zum kleinsten gemeinsamen Nenner mutieren, sondern zum größten gemeinsamen Vielfachen werden.

Wir sind derzeit Zeugen eines musikkulturellen Umbruchs, der im außerkulturellen Bereich nur mit dem Zusammenbruch des Kommunismus vergleichbar ist. Das gesamte vergangene Jahrhundert war in Europa bestimmt durch den Übergang von der hier rund eintausend Jahre dominierenden Kultur der Notenschrift in eine noch ungewisse Zukunft: In der Neuen Musik nutzte man die Improvisation, exotische Instrumente und Tonsysteme, oder man versuchte, sich durch grafische Notation oder Multimedia von der Einengung durch die Notenschrift zu befreien. In der Populären Musik knüpfte man gleichzeitig an längst verschüttete abendländische Traditionen aus der Zeit vor der Erfindung der Notenschrift an. Hier verlangt die körperliche Seite der Musik erneut nach ihrem Recht, die über Jahrhunderte durch Kirche, Musikpädagogik und -wissenschaft unterdrückt wurde. Diese Unterdrückung war einhergegangen mit einer Verkümmerung der rhythmischen Komplexität im Vergleich zu nahezu allen anderen Kulturen der Welt. Musiksoziologisch betrachtet hat der Musicalbesuch längst das Opern-Abo abgelöst und spätestens mit der Elton-John-Ballade beim Staatsbegräbnis von Lady Di hat Populäre Musik auch traditionelle repräsentative Funktionen übernommen.

In diesem Zusammenhang sollten wir uns einerseits vor dem wertenden Vergleich unterschiedlicher Musikkulturen hüten und andererseits davor, sie zu einer Art ‘Weltsprache’ zu verkleistern, die angeblich in allen Zivilisationen verstanden wird. Diese ‘Weltsprache’ hat es nie gegeben und dies wird vermutlich so bleiben. Unter pädagogischen Aspekt muss das Fremde daher zunächst einmal als fremd akzeptiert werden; erst danach kann es uns eventuell vertrauter werden. Fremdes kann dabei auch Ängste auslösen, die sowohl Ausländerfeindlichkeit als auf Fremde projizierten Selbsthass erklären kann als auch die Etablierung rechter Jugendkulturen.

Beim Umgang mit fremden Kulturen ist Respekt erforderlich. Statt im stilistischen Niemandsland fröhlich drauflos zu grooven, sollten wir in der Musikpädagogik mit dazu beitragen, das beschriebene körperliche-musikalische Vakuum möglichst authentisch zu füllen. Hierbei sollten wir auch den Anschluss an verschüttete abendländische Musiktraditionen suchen. In anderen Kulturen findet immer wieder ein in Deutschland unvorstellbarer Übergang zwischen volksmusikalischer Tradition und aktuellem Pop statt. Bei uns existieren stattdessen nur Brüche: Durch die ‘Säuberung’ volksmusikalischer Traditionen im 19. Jahrhundert und den Missbrauch der Volksmusik durch die Nazis war im Deutschland der 1950er Jahre jenes Vakuum entstanden, in das die anglo-amerikanische Populäre Musik Flächen deckend einbrechen konnte. In dasselbe Vakuum dringt auch die volkstümliche Musik, die als zeitgenössische Schlagermusik im traditionellen Gewand historisch nichts mit gewachsener Volksmusik zu tun hat. Aus all diesen Gründen singen bei den Vorstellungsrunden auf internationalen Jugendtreffen die französischen oder italienischen Jugendlichen weiterhin völlig selbstverständlich ein Volkslied in ihrer jeweiligen Muttersprache, bevor die Deutschen Yesterday anstimmen  - womit selbstverständlich nichts gegen eine der schönsten Kompositionen des 20. Jahrhunderts gesagt sein soll!

Literaturhinweise

Details zu diesem Thema finden sich in: Ansohn/Terhag (Hg.): Musikunterricht heute. Bd. 5: Musikkulturen - fremd und vertraut. Oldershausen 2004. (mit Hybrid-CD/CD-Rom)