Jürgen Terhag

Kurztexte

Populäre Musik

Die historisch und stilistisch schillernde Bezeichnung Populäre Musik [1] hat sich inzwischen in der Musikpädagogik als praktikabler Sammelbegriff für die Stilbereiche Rock, Pop und Jazz - unter Einschluss ihrer fließenden Übergänge - etabliert. Die Benutzung eines gemeinsamen Begriffs für unterschiedliche Musikarten ist durchaus problematisch, sie erleichtert jedoch unter verschiedenen Aspekten die musikpädagogische Analyse der hier zusammengefassten Genres: Aus Sicht der Jugendsoziologie ist die enge Verflechtung jugendkultureller Lebenswelten mit Stilbereichen wie Swing, Rock'n'Roll, Beat, Schlager, Grunge, HipHop, Techno o.ä. durchaus vergleichbar. Dabei führten in der Vergangenheit auch völlig unterschiedliche musikalische Formen, Strukturen und Stile zu recht ähnlichen jugendlichen Reaktionen.

Aus Sicht der Musikpädagogik macht der Umgang mit Populärer Musik zu allen Zeiten einerseits die schulischen und hochschulischen Chancen bei der Annahme aktueller Herausforderungen deutlich, um gleichzeitig auch die Probleme von Schule und Hochschule im Umgang mit Aktualität und Zeitgenössischem sichtbar werden zu lassen. Der Musikwissenschaftler Markus Heuger bezeichnet Begriffe wie Popularmusik als "akademisches Phantom" mit Stigmatisierungscharakter; das Festhalten an einer unspezifischen Bezeichnung stabilisiert nach Meinung des Autors exklusive Musikkonzepte anstatt sie generell in Frage zu stellen [2].

Auch nach Wulf-Dieter Lugert geht es bei diesem Begriff letztlich darum, "einen Namen für ein widerwillig zu adoptierendes Kind zu finden, das bis dahin weder von der Musikwissenschaft noch von der Musikpädagogik einer Betrachtung oder Behandlung für würdig erachtet worden wäre." [3]

Durch das Eindringen von Populärer Musik in die Schule ist zwar weder das Abendland untergegangen noch ist Beethoven in Vergessenheit geraten, die traditionelle Musikpädagogik hat sich rückblickend jedoch als unfähig erwiesen, auf das jeweils aktuelle Kulturleben zeitig, angemessen und behutsam zu reagieren. Der Entwicklung hinterherhinkend oder hinterherhastend, wurde Populäre Musik entweder nur halbherzig integriert oder vorschnell und kritiklos übernommen. Die immer gleichen Reaktionen der Erwachsenen- und Pädagogenwelt auf frühen Jazz oder das rotierende Elvis-Becken, auf Beatlemania, Michael Jackson oder Techno zeigen, dass es hier stets um wesentlich mehr gegangen ist als darum, dass Kinder und Jugendliche seit Generationen Populäre Musik und deren Umfeld lieben und dass diese Tatsache von einer mit allen Wassern gewaschenen Musik- und Freizeitindustrie weidlich ausgenutzt wird [4].

Die veröffentlichte musikpädagogische Reaktion auf Populäre Musik macht immer wieder neu deutlich, dass man in dieser Musik anscheinend eine Gefahr für die tradierte abendländische Kultur wittert. Immerhin wurde bereits früh die Meinung formuliert, Populäre Musik stelle die größte Herausforderung dar, "der sich Schulmusiker in der Geschichte jemals gegenüber gesehen haben, inhaltlich allenfalls vergleichbar der Herausforderung, die die 'dionysische' Musik für Platon dargestellt hat, keineswegs aber im Umfang der Provokation." [5]

Die ängstlich-distanzierte Grundhaltung, die in dieser Äußerung mitschwingt, war und ist durchaus berechtigt: Die äußerst heterogenen Stile und Formen Populärer Musik ermöglichen und erfordern als eine ihrer Gemeinsamkeiten einen prinzipiell anderen Umgang mit Musik, der auf die Überwindung der Grenzen abendländischer Musizierweisen und Rezeptionshaltungen zielt. Nüchtern betrachtet, besteht eine "Gefahr" jedoch allenfalls für den Alleinvertretungsanspruch des abendländischen Umgangs mit Musik und Kunst; für das Erleben von Musik mit allen Sinnen, für die Einbindung von Musik in das Alltagsleben und somit für durchaus zentrale musikpädagogische Ziele stellte die Herausforderung durch Populäre Musik dagegen niemals eine Gefahr, sondern im Gegenteil stets eine riesige Chance zur Erweiterung unserer musikalischen und pädagogischen Aktivitäten dar. Diese Chance bietet sich jedoch nur dann, wenn Erwachsene sensibel mit jener Musik umgehen, die den Alltag vieler Jugendlicher bestimmt. Wenn Erwachsene kritiklos oder anbiedernd jeder Modeströmung hinterherlaufen - im Zeitalter des Jugendkults durchaus keine musikpädagogische Seltenheit - , machen sie die Möglichkeit zum Dialog zwischen den Generationen ebenso zunichte wie durch hemdsärmeliges, halbherziges oder uninformiertes Berücksichtigen von Populärer Musik. Besonders der Unterricht mit jugendkulturell geprägter Populärer Musik erfordert von den Unterrichtenden eine Balance zwischen Distanz und Nähe, da sowohl die generelle Verdammung dieser Musik durch übertriebene Distanz als auch das pseudo-jugendliche Hinterherhasten durch falsche Nähe die generationsüberbrückenden Möglichkeiten Populärer Musik zunichte machen kann [6].

Im hochschulischen Bereich sind für den Unterricht mit Populärer Musik neben der Vermittlung generationsspezifischer Sensibilität erweiterte Formen des Instrumental- und Gesangsunterrichts sowie eine methodische Ausbildung erforderlich, die auch körperorientierte und notenfreie Lehr- und Lernprozesse sowie die niveauvolle musikalische Animation von Laien einschließen. Hier müssen die Lehramtsabteilungen der Musikhochschulen und die pädagogischen Fakultäten der Universitäten gemeinsam neue Wege suchen, denn die Hochschul-Abteilungen, in denen die professionelle Ausbildung für "Popularmusik" stattfindet, sind leider stilistisch und methodisch sehr weit von Populärer Musik entfernt, da es dort in aller Regel selten um wirklich Populäres und Aktuelles geht. In Anlehnung an tradierte Bildungsnormen findet sich weitaus weniger Eingängiges als Artifizielles und damit nur selten um das, was Kinder oder Jugendliche an Populärer Musik fasziniert. Auch unter methodischen Gesichtspunkten sind die "Popularmusikabteilungen" recht verschult. Hier wird leider oft eine äußerst hausbackene und konservative Pädagogik lediglich mit ternärem Feeling versehen: In der Männerdomäne des Wettbewerbs herrscht beim Skalenpauken in Einzelhaft ein olympischer Geist vor, der pädagogisch nicht besonders fantasievoll daherkommt. Falls sich an dieser Atmosphäre nichts wesentliches ändert, ist von diesen Abteilungen für die schulische Musikpädagogik nicht viel Hilfe zu erwarten; um einer Pädagogisierung von Populärer Musik zu entgehen, sollte die Musikpädagogik stattdessen gegenwärtig und in Zukunft für die aktive Beteiligung der Musikszene offen bleiben, die sie vor der Verschulung einer lebendigen Musik bewahren kann.

Literaturhinweise

  • Vgl. auch das von mir herausgegebenen Themenheft der Zeitschrift "Musik und Unterricht", Heft 46. September 1997. Erschienen im Friedrich Verlag
  • Vgl. Heuger, Markus: „Don't call my music POPULARMUSIK! - Anmerkungen zu einem akademischen Phantom“ In: Hoffmann/Rösing (Hg.): Blickpunkt afro-amerikanische Musik. Karben 1997.
  • Lugert, Wulf-Dieter: "Populäre Musik - eine 'unendliche Geschichte'" In: Terhag, Jürgen (Hg.): Populäre Musik und Pädagogik. Oldershausen 1994. S.26ff. hier: S. 27.
  • Vgl. Terhag, Jürgen: Populäre Musik und Jugendkulturen. Regensburg 1989. S. 50ff. Wiechell, Dörte: Didaktik und Methodik der Popmusik. Frankfurt/Main 1975. S. 147.
  • Vgl. Terhag, Jürgen: "Die Vernunftehe - Vierzig Jahre Populäre Musik und Pädagogik" In: Baacke, Dieter (Hg.): Handbuch 'Musik und Jugend'. Opladen 1998.